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Der Tag des Kommens und Gehens

 

Pietr, der Lette, überflog ein paar Zeitungen. Mehr als den anderen schenkte er dabei dem Revaler Boten seine Aufmerksamkeit, einem estnischen Blatt, von dem es im Majestic nur eine alte Ausgabe gab, die wahrscheinlich ein Reisender vergessen hatte.

Kurz vor elf steckte er sich eine neue Zigarre an, durchquerte die Halle und ließ sich von einem Boy seinen Hut holen.

Die eine Seite der Champs-Elysées lag im vollen Sonnenlicht, und es war recht mild.

Mit grauem Filzhut, aber ohne Mantel ging der Lette langsam, wie jemand, der nur frische Luft schnappen will, zur Place d’Etoile hinauf.

Ohne sich verstecken zu wollen, blieb ihm Maigret auf den Fersen. Sein Verband, der ihn in seinen Bewegungen behinderte, ließ ihn diesen Spaziergang wenig genießen.

 

An der Ecke der Rue de Berry hörte er in seiner Nähe einen leisen Pfiff, doch er achtete nicht darauf. Dann erneutes Pfeifen. Als er sich umdrehte, sah er Inspektor Dufour, der eine geradezu geheimnisvolle Pantomime aufführte, um seinem Chef verständlich zu machen, daß er ihm etwas zu sagen hatte.

Der Inspektor stand in der Rue de Berry vor einer Apotheke und tat so, als betrachte er die Schaufensterauslagen, so daß sich seine Gesten auf einen wächsernen Frauenkopf zu beziehen schienen, dessen eine Wange von einem Ekzem bedeckt war.

»Komm her! … Los! … Schnell! …«

Dufour war über diese Worte ebenso betroffen wie ungehalten.

Seit einer Stunde schlich er um das Majestic herum, wendete alle nur erdenklichen Listen an, um nicht erkannt zu werden, und nun befahl ihm der Kommissar, sich ohne weiteres zu entdecken!

»Was geht vor?«

»Die Jüdin …«

»Weggegangen?«

»Sie ist hier … Und da Sie mich gezwungen haben, auf Sie zuzukommen, kann sie uns jetzt sehen …«

Maigret schaute sich um.

»Wo ist sie?«

»Im Select … Sie sitzt drinnen … Gucken Sie, der Vorhang bewegt sich!«

»Überwach sie weiter …«

»Ohne mich zu verbergen?«

»Nimm einen Aperitif am Nachbartisch, wenn es dir Spaß macht.«

Denn in diesem Stadium des Kampfes hatte es keinen Sinn mehr, Versteck zu spielen. Maigret setzte seinen Weg fort und erblickte zweihundert Meter weiter den Letten, der das Gespräch nicht genutzt hatte, um sich seiner Beschattung zu entziehen.

Und warum auch weglaufen? Die Auseinandersetzung fand auf einer neuen Ebene statt. Die Gegner konnten sich sehen. Die Karten lagen fast alle auf dem Tisch.

Zweimal schlenderte Pietr vom Etoile zum Rond-Point, und am Ende kannte Maigret alle Einzelheiten dieser Gestalt, hatte er seinen Charakter im Grunde erfaßt.

Dieser Mann war zierlich, lebhaft und eigentlich vornehmer als Mortimer, aber eben von nordischer Vornehmheit.

Der Kommissar hatte einige Leute dieses Schlages beobachtet, lauter Intellektuelle. Und jene, die er während seines abgebrochenen Medizinstudiums im Quartier Latin kennengelernt hatte, verwirrten den Romanen, der er war.

Er erinnerte sich unter anderem an einen von ihnen, an einen mageren blonden Polen, der mit zweiundzwanzig schon schütteres Haar hatte. Seine Mutter lebte in seiner Heimat als Putzfrau, und sieben Jahre lang besuchte er die Vorlesungen an der Sorbonne, ohne Strümpfe anzuhaben, und aß immer nur ein Stück Brot und täglich ein Ei.

Er konnte sich nicht die erforderlichen Bücher kaufen, und so war er gezwungen, in öffentlichen Bibliotheken zu lernen.

Er wußte nichts von Paris, kannte weder Frauen noch das Wesen der Franzosen. Aber er hatte sein Studium kaum beendet, da bot man ihm in Warschau bereits einen bedeutenden Lehrstuhl an.

Fünf Jahre später sah ihn Maigret in Paris wieder. Er wirkte genauso trocken und kalt wie früher. Er gehörte zu einer Delegation ausländischer Wissenschaftler und speiste im Elysée.

Der Kommissar hatte auch andere gekannt. Sie waren nicht alle gleich. Aber fast alle fielen durch die Menge und die Verschiedenartigkeit der Dinge auf, die sie lernen wollten und lernten.

Studieren, um zu studieren! Wie dieser Professor einer belgischen Universität, der alle Dialekte Ostasiens beherrschte (an die vierzig), der jedoch nie einen Fuß auf asiatischen Boden gesetzt hatte und sich übrigens für die Völker gar nicht interessierte, deren Sprachen er sich angeeignet hatte.

Etwas von dieser Willenskraft sprach aus den graugrünen Augen des Letten. In dem Augenblick aber, in dem man ihn dieser Sorte von Intellektuellen glaubte zuordnen zu können, entdeckte man andere Elemente in ihm, die das alles wieder in Frage stellten.

Man ahnte gewissermaßen den Schatten des Russen Fedor Jurowitsch, des Landstreichers im Trenchcoat, der sich über die klare Gestalt des Gastes aus dem Majestic legte.

Daß beide ein und derselbe Mann waren, das war eine logische und fast schon eine sinnliche Gewißheit.

Am Abend seiner Ankunft verschwand Pietr. Am nächsten Morgen begegnete ihm Maigret in Fécamp unter der Maske Fedor Jurowitschs wieder.

Er kehrte in die Rue du Roi de Sicile zurück. Wenige Stunden später betrat Mortimer das Hotel. Mehrere Personen verließen darauf das Haus, unter ihnen ein bärtiger Greis.

Und am kommenden Morgen hatte Pietr, der Lette, seinen Platz im Majestic wieder eingenommen.

Am erstaunlichsten jedoch war, daß trotz der auffälligen äußeren Ähnlichkeit kein gemeinsamer Charakter dieser beiden Verkörperungen festgestellt werden konnte.

Fedor Jurowitsch war durchaus ein slawischer Landstreicher, ein eingefleischter, schwermütiger Außenseiter. Nichts an ihm war unecht. Keinerlei Fehler zum Beispiel, als er sich in der Spelunke von Fécamp auf den Tresen stützte.

Andererseits war auch nichts an der Person des Letten auszusetzen, der von Kopf bis Fuß ein vornehmer Intellektueller war, sowohl in der Art, wie er einen Boy um Feuer bat oder seinen englischen grauen Markenfilzhut trug, als auch in der Ungezwungenheit, mit der er sich auf den sonnigen Champs-Elysées bewegte oder eine Schaufensterauslage betrachtete.

Das war eine nicht nur äußerliche Vollkommenheit. Maigret hatte selbst schon verschiedene Rollen gespielt. Wenn die Leute bei der Polizei sich auch seltener schminken und verkleiden, als man denkt, ist es doch manchmal nicht zu umgehen.

Aber auch ein maskierter Maigret blieb Maigret – zumindest in einigen Zügen, in einem Blick oder in einer charakteristischen Bewegung.

Als dicker Viehhändler zum Beispiel (das war vorgekommen, und er hatte Erfolg gehabt) ›spielte‹ er diesen Viehhändler. Doch er war es nicht. Es war eine äußerliche Figur.

Pietr-Fedor dagegen war entweder ganz Pietr oder ganz Fedor.

Der Eindruck des Kommissars ließ sich etwa so zusammenfassen: Er war sowohl der eine wie der andere, und zwar nicht allein durch die Kleidung, sondern von seinem Wesen her.

Er lebte abwechselnd diese zwei so unterschiedlichen Leben offenbar schon lange, vielleicht schon immer.

Dies waren nur unzusammenhängende Gedanken, die Maigret einfielen, während er in beschwingter Atmosphäre langsam weiterging.

Plötzlich jedoch zerfiel das Bild des Letten in tausend Stücke.

 

Die Umstände, die dazu führten, waren bezeichnend. Er war in der Höhe des Fouquet stehengeblieben und schien, wohl um seinen Aperitif in der Bar dieses Luxus-Etablissements einzunehmen, die Straße überqueren zu wollen.

Doch er besann sich, ging weiter und bog auf einmal mit schnellen Schritten in die Rue Washington ein.

Dort gab es eine dieser Kneipen, die mitten in den besten Wohnvierteln liegen und in denen Taxifahrer und Hausangestellte verkehren.

Pietr trat ein. Der Kommissar kam nach ihm, als Pietr gerade einen Absinth-Ersatz bestellte.

Er stand vor einer hufeisenförmigen Bar, die ein Kellner in blauer Schürze von Zeit zu Zeit mit einem schmutzigen Lappen abwischte. Links von ihm eine Gruppe staubiger Maurer. Rechts ein Kassierer der Gaswerke.

Der Lette fiel durch seine Korrektheit, durch den raffinierten Luxus in den Einzelheiten seiner Kleidung sofort auf.

Man sah seinen kleinen, zu blonden, zahnbürstenförmigen Schnurrbart, seine dünnen Augenbrauen schimmern. Er blickte Maigret nicht direkt an, sondern auf dem Umweg über einen Spiegel.

Und der Kommissar gewahrte ein leichtes Zittern der Lippen, ein unmerkliches Zusammenziehen der Nasenflügel.

Pietr mußte sich zusammennehmen. Er begann langsam zu trinken, bald aber kippte er den Rest mit einem Zug hinunter und gab mit der Geste eines Fingers zu verstehen:

»Nachschenken! …«

Maigret hatte einen Wermut bestellt. In der winzigen Bar wirkte er noch größer und massiver als sonst. Er ließ den Letten nicht aus den Augen.

Und er erlebte gewissermaßen zwei Szenen gleichzeitig. Wie vorhin überlagerten sich die Bilder. Die schäbige Kneipe von Fécamp schien hinter dem gegenwärtigen Dekor auf. Pietr war doppelt zugegen. Maigret sah ihn in seinem zimtbraunen Anzug und in seinem abgetragenen Trenchcoat.

»Länger, sag ich dir, laß ich mich nicht abspeisen!« sagte einer der Maurer und knallte sein Glas auf die Theke.

Pietr trank seinen dritten opalfarbenen Aperitif, dessen Anisgeruch Maigret in die Nase drang.

Da der Gasangestellte sich weggedreht hatte, standen die beiden Männer dicht nebeneinander.

Maigret war zwei Köpfe größer als sein Nebenmann. Beide sahen sich dem Spiegel gegenüber, und in dessen grauer Fläche blickten sie sich an.

Das Gesicht des Letten begann in den Augen undeutlich zu werden. Er schnippte mit seinen trockenen weißen Fingern, wies auf sein Glas und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

Und dann spielte sich in seinen Zügen so etwas wie ein Kampf ab. Maigret sah im Spiegel bald das Gesicht des Reisenden aus dem Majestic, bald das gequälte Antlitz des Geliebten von Anna Gorskin.

Doch dieses Gesicht behielt nie die Oberhand. Es wurde mit verzweifelter Muskelarbeit zurückgedrängt. Nur die Augen blieben die des Russen.

Mit der linken Hand hielt er sich am Rand der Theke fest. Sein Körper schwankte.

 

Maigret reizte ein Experiment. Er hatte das Porträt von Frau Swaan in der Tasche, das er aus dem Album des Fotografen in Fécamp genommen hatte.

»Was macht das?« fragte er den Kellner.

»Vierundvierzig Sous …«

Er tat, als suche er in seiner Brieftasche, und ließ das Foto herausfallen, das in einer Lache hinter der Theke landete.

Er kümmerte sich nicht darum, sondern hielt einen Fünf-Franc-Schein hin. Aber sein Blick war auf den Spiegel gerichtet.

Der Kellner zeigte Bedauern, hob das Porträt auf und wischte es an seiner Schürze ab.

Pietr, der Lette, umklammerte sein Glas fester; seine Augen waren hart, die Züge ungerührt.

Dann gab es plötzlich ein kleines, unerwartetes Geräusch, das so deutlich war, daß der an der Kasse beschäftigte Wirt sich blitzschnell umdrehte.

Die Hand des Letten öffnete sich und ließ Scherben auf die Theke fallen. Er hatte sein Glas langsam zerdrückt. Ein winziger Schnitt an seinem Zeigefinger blutete.

Nachdem er einen Hundert-Franc-Schein vor sich auf den Tresen geworfen hatte, verließ er, ohne Maigret anzublicken, das Lokal.

 

Jetzt ging er geradewegs zum Majestic. Keine Spur von Trunkenheit. Seine Haltung war dieselbe wie beim Weggang, sein Schritt ebenso fest.

Maigret blieb ihm hartnäckig auf den Fersen. Als er in die Nähe des Hotels kam, sah er, wie ein ihm bekanntes Auto abfuhr. Es war der Wagen der Spurensicherung, der die Gerätschaften für Fotoaufnahmen und Fingerabdrücke wegbrachte.

Diese Begegnung nahm ihm allen Schwung. Für einen Augenblick verlor er jedes Selbstvertrauen, fühlte sich wie ohne Halt und ohne Stütze.

Er ging am Select vorbei. Inspektor Dufour gab ihm durch die Scheibe ein Zeichen, das vertraulich gemeint war, aber eindeutig und für jeden sichtbar auf den Tisch der Jüdin deutete.

»Mortimer?« fragte der Kommissar am Empfang des Hotels.

»Er hat sich eben zur Botschaft der Vereinigten Staaten fahren lassen, wo er zu Mittag ißt …«

Pietr, der Lette, begab sich zu seinem Tisch im noch leeren Speisesaal.

»Möchten Sie auch essen?« fragte der Geschäftsführer Maigret.

»Ja, decken Sie für mich an seinem Tisch!«

Dem anderen verschlug es den Atem.

»An seinem …? Das geht leider nicht! Der Saal ist fast leer und …«

»Ich habe gesagt, an seinem Tisch!«

Der Geschäftsführer gab sich nicht geschlagen und eilte hinter dem Kommissar her.

»Hören Sie! Er wird sicher einen Skandal heraufbeschwören. Ich kann Ihnen einen Platz anweisen, von dem aus Sie ihn genausogut sehen können.«

»Ich habe gesagt, an seinem Tisch!«

Als er dann in der Halle umherschlenderte, merkte er, daß er müde war. Eine alles durchdringende Mattheit, die seinen ganzen Körper, ja, sein gesamtes Wesen, Körper und Seele, erfaßte, bemächtigte sich seiner.

Er ließ sich in denselben Korbstuhl wie am Morgen fallen. Eine sehr reife Dame und ein überaus gepflegter junger Mann erhoben sich sofort, und während die Frau nervös an ihrem Lorgnon hantierte, sagte sie betont deutlich zu ihrem Partner:

»Diese Grandhotels werden immer unmöglicher! … Nun schau dir das an! …«

›Das‹ war Maigret, der nicht einmal lächelte.

Maigret und Pietr der Lette
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